Missing Link: Wie Meta, Google, X & Co. Journalismus und Demokratie bedrohen

Die Breitseiten, die Elon Musk auf seiner Plattform X gegen führende europäische Politiker aus dem Mitte-Links-Spektrum feuert, haben eine erneute Debatte über die Wirkungen und die Regulierung sogenannter sozialer Netzwerke und anderer großer Online-Portale ausgelöst. Aktueller Tiefpunkt der gezielten Respektlosigkeiten des reichsten Menschen der Welt: An Silvester titulierte er Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) als “antidemokratischen Tyrannen” verknüpft mit: “Schande über ihn”.
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Die erwartbaren Antworten aus dem hiesigen demokratischen Lager ließen nicht lange auf sich warten: SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich beschuldigte Musk, “eine Grenze zwischen befreundeten Staaten” überschritten zu haben. CDU-Chef Friedrich Merz rügte die Einlassungen des Tech-Milliardärs und Donald-Trump-Beraters als “übergriffig”. Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen erklärte, die Attacken hätten “Logik und System”: sie zielten auf die Schwächung Europas. Zuvor hatte etwa auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) sein Fett abgekriegt.
Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.
Die kollektive Empörung dürfte Musk aber nur in seiner Gier nach globaler Aufmerksamkeit beflügeln. Längst agiert der Serien-Unternehmensgründer – spätestens in seiner neuen Rolle als Oberentbürokratisierer an der Seite des designierten US-Präsidenten Trump – als Staat im Staate und Vorreiter einer “rechtsextremen Internationale” mit offener Unterstützung etwa der AfD. Dabei sollte Musk nur mal seine KI Grok fragen. Die sagt: “Wenn man die Vergangenheit Deutschlands berücksichtigt, sollte man auf keinen Fall die AfD wählen”. Thorsten Benner, Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi), fordert daher: “Wenn Sie Musk angreifen wollen, dann zielen Sie auf seine Geschäftsinteressen: Streben Sie eine wirksame Regulierung von X an, organisieren Sie einen Verbraucherboykott gegen Tesla und setzen Sie auf massive Investitionen, um die europäische Abhängigkeit von Starlink zu verringern.”
Hunger Games: die Zerstörung des Journalismus
Das ist Wasser auf die Mühlen des Kölner Medienwissenschaftlers Martin Andree. In einem Impulspapier für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel “The Hunger Games” über die “Zerstörung” der freien Presse schlägt er einen Bogen von den Auswirkungen digitaler Monopole auf Journalismus und Demokratie bis zum Ruf nach einem härteren Anpacken großer Online-Plattformen. Social-Media-Anbieter dürfen ihm zufolge nicht länger von der Haftungsfreistellung für Inhalte Dritter profitieren, die sie übertragen und mit denen sie Geld verdienen, ohne dafür zu bezahlen.
Andrees These: Digitale Plattformen wurden einst als Werkzeuge für mehr Beteiligung gefeiert. Doch sie haben sich zu zentralen Machtinstanzen des Internets entwickelt – und damit in das Gegenteil einer elektronischen Agora. Die auf Aufmerksamkeit zielenden Geschäftsmodelle von Facebook, Instagram, Google nebst YouTube, TikTok, X & Co. förderten extreme Positionen. Gleichzeitig entziehe die Monopolisierung in der digitalen Welt traditionellen redaktionellen Medien ihre wirtschaftliche Grundlage. Es seien daher einschneidende politische und regulatorische Maßnahmen nötig.
Ein bisschen Theorie kann bei dem Rundumschlag nicht schaden. Andree schreibt: “Die Medien waren immer die Grundlage unserer Demokratie – sie erzeugen die Öffentlichkeit und den Kitt des gemeinsamen Verständnisses, das unsere Gesellschaft zusammenhält.” Da ist was dran. Vor allem Massenmedien galten lange als wichtigste Vermittlungsinstanz von Wirklichkeit. Ihnen werden vor allem entscheidende Sozialisations-, Kritik- und Kontrollfunktionen zugeschrieben. Schon etwas abgedroschen wirkt die Rede von der “Vierten Gewalt”. Kritikfähigkeit beruht jedenfalls auf der möglichst vollständigen Information und Aufklärung über Situationen, Sachverhalte und Problemfelder. Es ist die Aufgabe der Medien, diese Transparenz zu schaffen.
Das freie Netz ist perdu
Dank des Vormarschs des Web 2.0 sollte das Idealbild der demokratischen Öffentlichkeit noch verbessert, die Partizipation der Bürger gesteigert werden, blickt der Autor des Buchs “Big Tech muss weg!” zurück auf die euphorischen Tage der Netzkultur. “Aber in den vergangenen Jahren zeigt sich die Kehrseite dieser Entwicklung”, rechnet er ab. “Die digitale Öffentlichkeit wird von wenigen Monopolisten kontrolliert. Diese nutzen zur Maximierung der Aufmerksamkeit Algorithmen, die Hass, Häme und Hetze sogar belohnen – und die damit die Polarisierung unserer Gesellschaft verstärken.” Zudem werde X mittlerweile offen durch seinen Eigentümer Musk “zur politischen Instrumentalisierung missbraucht”. Vermeintliche Twitter-Revolutionen seien gescheitert.
“Durch Netzwerkeffekte, proprietäre Standards, Killer-Akquisitionen und den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen ist es den Digitalkonzernen gelungen, das freie Netz abzuschaffen”, geht Andree steil in seinem Urteil. Kollateralschaden: Die redaktionellen Medien seien gefährdet.
“In der Medienwirtschaft herrscht aufgrund der abschmelzenden Umsätze und der wegbrechenden analogen Geschäftsmodelle vielerorts Unruhe und sogar Panik”, hat der Impulsgeber festgestellt. Verlage versuchten mit allen Mitteln, Digital-Abos zu steigern. Verschiedene Initiativen erarbeiteten neue Visionen für digitalen Journalismus, mit Ideen zur strategischen Kooperationen von Wettbewerbern, der Entwicklung eines Spotify für Journalismus sowie neuer Formate wie Deep Journalism. Fast alle diese Ansätze krankten aber daran, “dass sie unter den Bedingungen der digitalen Monopolbildung chancenlos sind”. Bildhaft gesprochen, kontrollierten die Tech-Konzerne das digitale Schienennetz. Die Presse besitze “keinen echten Zugang zu den digitalen Gleisen”.
Fata Morgana der digitalen Vielfalt
“Wissenschaftliche Messungen”, die Andree zusammen mit Timo Thomsen für seinen 2020 veröffentlichten “Atlas der digitalen Welt” durchgeführt hat, belegen ihm zufolge: “Die digitale Vielfalt aus vielen Millionen Domains und Apps ist eine Fata Morgana. In der Realität der Nutzung geht der Traffic hauptsächlich in monopolistische Plattformen.” Auf den Top-Positionen lägen “YouTube, Facebook, WhatsApp, Google und so fort”. Dagegen erscheine “der Rest des Internets als gigantische Brache”, in der kaum Verkehr vorhanden sei.
71,8 Prozent der Verweilzeit der hiesigen Web-Nutzer entfällt laut der Analyse auf die größten 100 Plattformen. Spiegel.de – eines der “stärksten” deutschsprachigen journalistischen Angebote – besitze zwar eine “Nettoreichweite von beeindruckenden 49 Prozent in der deutschen Bevölkerung”. Doch die ernüchternde Nutzungsdauer betrage nur 18 Minuten – “nicht am Tag, sondern im Monat”. Diese falle im Vergleich zu den Netzwerkperformern “winzig gering” aus.
Im digitalen Bewegtbild erziele der öffentliche Rundfunk einen Anteil der Nutzungsdauer von etwa 4 Prozent auf eigenen Domains, malt Andree die Misere aus. Der Anteil im analogen Fernsehen habe 48 Prozent betragen. In einer rein digitalen Welt wäre das gesamte duale System – also inklusive der Privatsender – relativ gesehen so unbedeutend, dass es kaum noch gesellschaftliche Relevanz besäße.
Kontrolle über Inhalte und Werbung
“Fairer und freier Wettbewerb wurde auf den meisten digitalen Märkten vollständig abgeschafft”, begründet der Forscher den Zustand. Er vergleicht ein soziales Netzwerk mit einem Kaufhaus, in das die Kunden “immer nur tiefer hineingelangen, und bei dem die Auswege mit Hindernissen versehen sind”. Ferner zahlten Social-Media-Betreiber im Gegensatz zu redaktionellen Medien keine Honorare und nutzten “user-generated Content”. “Ironischerweise haben wir diesen Vorteil der Plattform noch zusätzlich regulatorisch belohnt”, ärgert sich der Verfasser, “indem wir sie von der Verbreiterhaftung freigestellt haben”.
Dieses Problem wird laut Andree durch das elementare EU-Plattformgesetz, den Digital Services Act (DSA), nicht behoben. Es gälten weiter die üblichen “Notice & Takedown”-Mechanismen. Kriminelle Inhalte würden also “dem Betreiber gemeldet, der sie dann prüft und bei einer Rechtsverletzung sperrt”. Dieser Prozess nehme so viel Zeit in Anspruch, “dass die diskursiven Schäden in der schnelllebigen digitalen Öffentlichkeit längst eingetreten sind, bis die Inhalte entfernt werden”. Big Tech bevorteile sich zudem massiv selbst und nagele Nutzer in eigenen Diensten fest. Zumindest solchen Wettbewerbseinschränkungen baut die EU inzwischen mit dem Digital Markets Act (DMA) bei “Torwächtern” vor.
Auch der Ausblick des Marketingexperten, der sich mit einer eigenen Firma auf KI-Anwendungen und Datenanalysen spezialisiert hat, ist nicht rosig: Bis 2029 werde der Anteil der digitalen Werbeinvestitionen auf über 63 Prozent steigen. Schon jetzt liege in westlichen Ländern der Anteil der drei größten Digitalmonopolisten – Alphabet, Meta und Amazon – an den gesamten digitalen Werbeeinnahmen zwischen 80 und 90 Prozent. Zudem besäßen die dominanten Plattformen die Kontrolle über die Ausspielung der Inhalte. Sie reduzierten Sichtbarkeiten etwa durch Filterung, Warnungen, das Löschen von Posts und Profilen oder Reichweitendrosselungen. Andererseits könnten sie Content etwa durch Empfehlungsalgorithmen nach oben spülen. Die Vorstellung einer angeblichen “Neutralität” der Plattformen sei irreführend.
Abschnitt 230 CDA kommt ins Spiel
Was passiere nun, “wenn unsere Medienrealität in wenigen Jahren hauptsächlich” von den vermeintlichen Vermittlern (“Intermediären”) getragen werde, fragt Andree. Seine Antwort: Es würden “viele verfassungsrechtliche Vorgaben ausgehebelt”. Dabei gehe es etwa um Prinzipien wie Anbietervielfalt und Staatsferne sowie das diffizile, von Landesmedienanstalten und diversen Kommissionen getragene Kontrollgerüst für Presse und Rundfunk. Medien dürften auch nie von den Interessen spezifischer Gruppen beherrscht werden. In der digitalen Sphäre würden jedoch “ganze Mediengattungen von einzelnen Tech-Riesen kontrolliert”, wodurch sie “ihren privatwirtschaftlichen Interessen ausgeliefert” seien.
Auch medienökonomisch hält der Wissenschaftler die Unterscheidung zwischen Intermediären und klassischen Medien für irreführend, denn beide erzielten ihre Gewinne durch Reklame. Plattformen böten den Nutzern dafür Inhalte an, etwa in einem Feed, die sie durch Werbung monetarisierten. Sie seien daher zweifellos als Inhalteanbieter einzustufen, nicht als Vermittler. Andree beklagt: “Weil unsere Definitionen fehlerhaft und irreführend sind, haben wir die Regulierung der digitalen Medien für unsere Gesellschaft auf Sand gebaut.”
Im Netz müsse fortan ein anderer Grundsatz gelten, plädiert der Forscher für eine Haftungsumkehr: “Wer wirtschaftliche Verantwortung für konkrete Inhalte übernimmt (durch Monetarisierung), der muss auch die volle inhaltliche Verantwortung übernehmen.” Haftungsprivilegien für Intermediäre und Provider finden sich in der EU in der E-Commerce-Richtlinie, in den USA vor allem in Abschnitt 230 des Communications Decency Act (CDA). Letzterer gilt gar als grundlegende Norm für die Meinungsfreiheit im Netz weltweit. Er schützt Plattformen davor, wegen schädlicher Inhalte verklagt zu werden, die Nutzer auf ihren Seiten veröffentlichen. Der Paragraf gibt den Betreibern auch weitreichende Möglichkeiten zum Filtern und Löschen von Content, ohne dass sie dafür haftbar gemacht werden können.
Heilige Kühe schlachten
In den vergangenen Jahren unternahm die US-Regierung gerade unter Trump Anläufe, die Klausel umzuformulieren. Mit Musk an seiner Seite dürfte der alt-neue Präsident aber kaum mehr daran rühren. Im Frühjahr versuchten es führende Republikaner und Demokraten noch mit einem Gesetzentwurf, der Section 230 binnen 18 Monaten außer Kraft gesetzt hätte. In dieser Zeit sollte der Kongress einen neuen Haftungsrahmen erarbeiten und damit auch die Big-Tech-Macht eindämmen. Die Bestimmung habe dazu beigetragen, den Weg für soziale Medien und das moderne Internet zu ebnen, argumentierten die Drahtzieher. Inzwischen habe sich deren Nützlichkeit aber “überlebt”. Doch aus der Initiative wurde nichts. Auch Bürgerrechtsorganisationen wie die Electronic Frontier Foundation (EFF) hielten dagegen, da das Vorhaben auf “einer Reihe falscher Annahmen und grundlegender Missverständnisse” beruhe.
Andree zufolge ist es an der Zeit, solche Heiligen Kühe zu schlachten. Der von ihm präferierte Haftungsansatz für große Plattformen löse das Problem, dass diese “unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit nach wie vor ungestört” sogar mit strafbaren Inhalten Geld machten. Zugleich sei dadurch die freie Meinungsäußerung an sich aber nicht betroffen, “denn nicht die Übertragung, nur die Monetarisierung strafbarer Inhalte ist unterbunden”.
Zu den weiteren Vorschlägen aus dem Papier zählt, Links auf Angebote außerhalb der Plattformen zu vereinfachen und volle Interoperabilität sowie offene Standards durchzusetzen. Dank letzterer sei etwa der Markt für E-Mails bis heute von Vielfalt geprägt – Nachrichten könnten hier problemlos zwischen unterschiedlichen Anbietern ausgetauscht werden. Zudem sollte auch für digitale Medien die bewährte Trennung von Übertragungsweg und Inhalt gelten. YouTube etwa müsste dann in Plattform- und Content-Services aufgeteilt werden. Zudem sollten die Betreiber verpflichtet werden, Drittanbieter zuzulassen, “bis Anbietervielfalt gewährleistet ist”. Mit solchen Regeln würde sich nicht nur der Traffic verschieben. Von ihnen würde auch “schnell eine zivilisierende und balancierende Wirkung auf die digitalen Diskurse” ausgehen.
Krise der Desinformationsforschung
Diese Regulierungsansätze sind einer Überlegung wert. Doch sie kommen wohl zur Unzeit. Die EU-Kommission dürfte mehrfach darüber nachdenken, ob sie weitere Gesetze zum Einhegen von Big Tech auf den Weg bringt beziehungsweise die bestehenden auch gegen die US-Unternehmen effektiv durchsetzt. Wird sie es sich etwa leisten können, Musk dafür zu sanktionieren, dass er nach dem Twitterkauf “bewusst ein gut funktionierendes System zur Bekämpfung von Desinformation und illegalen und gewaltverherrlichenden Inhalten zerstört” hat, wie es der Medienforscher Matthias Kettemann ausdrückt? Gespräche zum Vermeiden der von Trump angedrohten Handelszölle dürfte so ein Schritt nicht beflügeln.
Ferner haben Kommentatoren im Oktober in der Fachzeitschrift Misinformation Review eine “Krise im Bereich der Desinformationsforschung” ausgemacht. “Fast ein Jahrzehnt lang” seien Falschinfos und Fake News ein zentrales Thema der politischen Eliten, gemeinnütziger Organisationen und der Medien gewesen, heißt es darin. Trotzdem “hat man manchmal das Gefühl, dass das Fachgebiet der Beantwortung grundlegender Fragen zu den realen Folgen von Desinformationen, wie etwa ihren Auswirkungen auf Wahlen oder ihren Verbindungen zu Extremismus und Radikalisierung, nicht näher gekommen ist.”
Trumps erster Sieg 2016 und die Brexit-Entscheidung veranlassten “regierungsnahe Schichten auf beiden Seiten des Atlantiks, nach einer Erklärung zu suchen”, geht Politico auf diesen Aspekt ein. Bald hätten sie in den sozialen Medien die Schuldigen gefunden. Doch mit dem zweiten Durchmarsch gebe es kein großes Mysterium mehr, erklärte die Medienethikerin Kelly McBride dem Online-Magazin: “Niemand wurde dazu verleitet, für Donald Trump zu stimmen.” Die einst als globale Krise dargestellte Polarisierung, die von Plattformen ausgehe, erscheint dem Beitrag zufolge “heute eher als ein Produkt der höchst eigenwilligen politischen und medialen Kultur in den USA”.
Hartnäckige Stereotype
Werden Regulierung, das Fördern von Medienkompetenz, Faktenchecks, Online-Moderation und Pre-Bunking damit unnötig? Das Science Media Center (SMC) bleibt dabei: In der aktuellen Situation mit multiplen Krisen und aufgeheizten Online-Diskussionen stelle sich weiter die Frage, welchen Einfluss vor allem soziale Medien etwa auf den Wahlkampf und die eigentlichen Urnengänge haben könnten. Auch wenn sich der Tenor abzeichne, dass Desinformation Menschen nur begrenzt manipuliere, erziele sie doch bestimmte Wirkungen.
Wirklich zum Problem machten Propaganda & Co. oft erst Presse und Rundfunk, gibt der Leipziger Kommunikationsforscher Christian Hoffmann zu bedenken. Er hält starke Effekte von Desinformation für eher unwahrscheinlich, “sofern journalistische Medien ihr nicht wiederholt sehr große Reichweite schenken”. Nur eine Minderheit der Bürger konsumiere Fake News in einem nennenswerten Umfang – “und dies häufig ganz gezielt, um das eigene Weltbild zu bestärken”. Hier könne Desinformation “einen mobilisierenden, unter gewissen Bedingungen auch radikalisierenden Effekt entfalten”.
Menschen bewerteten politische Aussagen üblicherweise vor dem Hintergrund ihrer individuellen Vorlieben, bestätigt die Bochumer Internetforscherin Josephine Schmitt. “Zum Beispiel neigen sie dazu, Verschwörungserzählungen zu glauben, die ihrer politischen Einstellung entsprechen.” Alice Marwick vom Forschungsinstitut Data & Society sieht die Herausforderungen bei großen, hartnäckigen und stereotypen Geschichten, die immer wieder hochgekocht werden. Als Beispiele nennt sie Kriminalität von Migranten und die Verleumdung, dass US-Vizepräsidentin Kamala Harris sich “an die Spitze geschlafen” habe. Viele Rezipienten wollten solche Narrative glauben, weil die Welt ihnen zufolge so funktioniere.
Patentrezepte bleiben also rar. Einen Minimalansatz, den die Tübinger Medienwissenschaftlerin Sonja Utz, ins Spiel bringt, dürften aber viele unterschreiben. Sie wünscht sich – wenn es denn in weiser Voraussicht durchführbar wäre – ein Verbot, “dass eine einzelne Person eine etablierte Plattform kauft und zugrunde richtet”.
(nen)